Das neue Geläut der Nicolaikirche
Vorangestellt sei eine Darstellung der Anfang 2017 aktuellen Situation: Entsprechend der Läuteordnung von 2007 sind die Friedensglocke 2 am Mittag und die Stifterglocke 4 um 18,00 Uhr täglich zu hören. Die wertvollen D-Glocken 1 und 3, Gloriosa und Nicolaiglocke, läuteten nur zu besonderen Anlässen und seit Anfang 2016 gar nicht mehr. Der Grund sind Veränderungen in der Geometrie des Glockenstuhles, die eine Blockierung der Antriebe bzw. sogar ihre Beschädigung zur Folge hatten. Die Kirchengemeinde bemüht sich, die Schäden zu beseitigen und die Läutbarkeit wieder herzustellen.
Historische Glocken der Nicolaikirche
Der Verein befasste sich ab 1991 zunächst ausschließlich mit Sicherungsarbeiten an der Ruine. Nach 14jähriger Arbeit in von vielen Partnern geförderten Einzelprojekten hatte der Förderkreis St.Nicolai e.V. im Jahre 2003 die wesentlichen Maßnahmen zur Sicherung des 1945 zerstörten Baudenkmals St.Nicolai in Zerbst beendet. Die Türme und die Außenmauer sind für lange Zeit gesichert worden.
Damit wurden zugleich die Voraussetzungen geschaffen, um eine andere große Aufgabe in Angriff zu nehmen, die Restaurierung der beschädigten historischen Glocken und ihre Vereinigung zu einem Geläut.
Schon im ersten Faltblatt des Vereins 1993 wurde die „Wiederherstellung des historischen Geläutes“ für die fernere Zukunft als Aufgabe formuliert. Dem lag die Vorstellung zu Grunde, dass es früher ein historisches Geläut als Ensemble gegeben hätte. Schubert beschreibt in seinem „Glockeninventar“ sieben Glocken der Nicolaikirche. Aber sie hatten nie ein Ensemble gebildet und hingen bis 1945 an 5 verschiedenen Stellen im Bauwerk. Von Ihnen waren nach dem Krieg noch 5 vorhanden, alle mehr oder weniger stark beschädigt.
Seit vielen Jahren standen die Friedensglocke und die Nicolaiglocke auf beiden Seiten des Nordeinganges in der Trinitatiskirche. Beide zeigten ihre starken Beschädigungen, aber auch ihre Schönheit. Eine feine grüne Patina überzog besonders die Friedensglocke.
Alle alten Glocken mussten entsprechend ihren Gussdaten schon zum Geläut der romanischen Vorgängerkirche gehört haben, wenn auch die Friedensglocke und die Nicolaiglocke später umgegossen worden sind.
Ab 1726 sollte die „große Glocke“, die auf dem beschädigten Südturm hing, nach Ratsbeschluss nicht mehr geläutet werden. Erst 1934 wurde sie auf den stabileren Nordturm gebracht, in einen stählernen Glockenstuhl gehängt und wieder geläutet. Man hatte ihr zuvor den Namen „Adolf-Hitler- Glocke“ gegeben. Ebenso verfuhr man mit der großen Uhrenglocke.
Die Joche waren gekröpft, so dass die Schwingungsachse mitten durch den Glockenkörper ging. Die Klöppel (Reversionsklöppel) mussten erheblich kürzer werden, denn ihre Aufhängung lag nahe der Drehachse. Um das zu erreichen, durchbohrte man die Hauben der Glocken und schweißte oder schraubte ein längeres Hangeisen ein. Die Haube der Gloriosa war vierfach, die der Uhrenglocke zweifach durchbohrt worden. In dieser Hängung waren beide Glocken mit motorgetriebenen Läutewerken ausgestattet, deren Schwenkrichtung durch „Quecksilberschweinchen“ umgeschaltet wurde.
Seit der Gründung des Förderkreises 1991 erfolgten auch Besichtigungen des Turmes mit den noch verbliebenen 2 Glocken. Durch den Westeingang zwischen den Türmen gelangte man in den Innenraum und zur Tür des Nordturmes. Dort oben hingen die legendäre „Gloriosa“ und die große Uhrenglocke ohne historischen Namen.
Als 10 Jahre später das Geläut – zunächst war nur an die beiden Glocken gedacht - in den Blickpunkt rückte, wurde im Vorstand bald erkannt: Es fehlt uns an „Glockenverstand“!
Am 13.02.2001 ging ein Brief an die Deutsche Stiftung Denkmalschutz nach Bonn, in dem um Beratung ersucht wurde, auch ein Förderantrag wurde abgeschickt. Aber die Initiative verpuffte, es mussten noch einige Jahre vergehen, bis das Vorhaben Konturen gewann.
Die aus alten Quellen stammenden Masseangaben erwiesen sich für alle Glocken als zu hoch. Für die Gloriosa waren 5,2 t oder noch großzügiger 5 t bis 7 t angegeben worden. Gewogen wurden 4540 kg - ohne Klöppel, wie bei den anderen auch. Der Umfang der Gloriosa beträgt 6,20 m, ihr neuer Klöppel wiegt 257 kg. Die Zuordnung des Namens „Gloriosa“ ist unsicher, er könnte von einer anderen Großglocke, die im 19ten Jahrhundert verloren ging, übertragen worden sein. Gegossen wurde sie am 16. Juni 1378 von einem unbekannten Meister. Sie war in die Glockenkategorie D – besonders wertvoll – eingestuft, daher im Krieg nicht für das Einschmelzen vorgesehen. Wir glaubten damals (1991), die Glocke befinde sich in einem guten Zustand, was sich später als Irrtum erwies.
In einem Geläut erfolgt die Nummerierung der Größe nach, sie ist also die Glocke Nr.1.
Glocke Nr. 2 ist die Friedensglocke von 1443, umgegossen 1660 von dem Magdeburger Glockengießer Georg Schreiber. Sie ist die drittgrößte anhaltische Glocke mit der Masse 2640 kg. Sehr reichhaltiges Dekor, frei von Rissen, großer Ausbruch an der Schärfe, der Klöppel fehlt, Glockenkategorie C - so die Kurzbeschreibung. Sie war im 2. Weltkrieg bereits auf dem Hamburger Glockenfriedhof, wurde aber nicht eingeschmolzen und kehrte wieder zurück. Den schweren Schaden der Friedensglocke, einen großen Ausbruch am Rand, hatte Schubart schon 1898 in seinem „Glockeninventar Anhalts“ erwähnt.
Als dritte folgt die Nicolaiglocke von 1477, Masse 1610 kg, Kategorie D (besonders wertvoll).
Sie wurde aus Anlass der Katastrophe von 1475 gegossen (aus einer Vorgängerglocke umgegossen), als im Turm die Pulvervorräte der Stadt explodiert waren.
Die Glocke hing 1945 auf dem Mittelturm und stürzte beim Brand durch die Holzdecken etwa 25 m tief herunter. Dabei wurde sie sehr schwer beschädigt. Sie hatte große Risse, die Krone fehlte. Lange war fraglich, ob sie reparabel wäre oder ein Museumsstück bleiben müsste.
4. Uhrenglocke von 1443, Masse 750 kg, Kategorie C. An ihr fiel auf, dass sie an Stelle der Krone einen dicken Zapfen mit einem rechteckigen Loch aufwies. Sie war bei ihrem Guss also bereits als feststehende Glocke einer Uhr mit Schlagwerk gedacht, obwohl sie nun läutbar an einem gekröpften Joch hing. Die Haube war doppelt durchbohrt, ein Reversionsklöppel eingehängt worden. So wurde sie zur Läuteglocke umfunktioniert.
Für das neue Geläut wurde sie nicht vorgesehen, sondern soll ihrer Bestimmung gemäß später ein Uhrwerk erhalten.
Als Nr. 5 gibt es eine kleine Läuteglocke von 1418, die ebenfalls die Krone verloren hatte. Sonst war sie gut erhalten.
Gegossen 1418, Masse 104 kg, Kategorie C.
Der Weg zum Projekt
Die große Glocke läutete sehr ungleichmäßig, offenbar hatte sich der Glockenstuhl verzogen. Sie wurde deshalb nicht mehr geläutet und nur noch durch den pendelnden Klöppel zu seltenen Anlässen hörbar gemacht.
An einem „Anhaltinischen Glockentag“ 2004 in Dessau nahm auch der Glockensachverständige Dr. Rainer Thümmel aus Radebeul teil. Seine Bereitschaft zur fachlichen Beratung für ein Glockenprojekt gab wahrscheinlich den Anstoß für das gewagte Unternehmen. Die Kirchengemeinde beauftragte den Förderkreis formell mit der Projektträgerschaft und die Vorplanung begann.
Das erste Gutachten ergab eine Kostensumme von 261 800 €, die Suche nach Förderpartnern begann. Weil die Förderrichtlinien der angesprochenen Geldgeber sehr verschieden waren, sollten 4 Teilprojekte zum dem Ziel führen: Schaffung eines neuen Geläuts aus den historischen Glocken und einer neu zu gießenden. Letztere würde die Einbeziehung der kleinen Glocke von 1418 ermöglichen, wenn sie die große Lücke im Klangbild der alten Glocken verkleinerte. Sie müsste also an vierter Stelle stehen.
- Projekt 1 - Sanierung des Glockenturmes und Herstellung des Glockenstuhles
- Projekt 2 - Restaurierung der historischen Glocken
- Projekt 3 - Guss der neuen Glocke
- Projekt 4 - Hängung, Installation, Schalläden, Einweihung
Der Kostenplan änderte sich schon bis zum eigentlichen Beginn des Projektes erheblich und und ergab Ende 2005 die Summe von 298.360 €.
Nachdem der Start erfolgt war, entwickelte das Vorhaben eine Eigendynamik, die nur noch schwer zu beherrschen war. Ein nachträglicher Ausstieg wäre nicht möglich gewesen. Die Förderpartner waren bald gefunden, aber die kalkulierten Kosten stiegen unaufhörlich. Baumaterial, Glockenbronze und Energie wurden teurer, die Mehrwertsteuer erhöht. Aber zusätzliche, vordem nicht erwartete Arbeiten brachten die größten zusätzlichen Ausgaben: Ein verdeckter Schaden an der Gloriosa (+22000 €), zusätzliche Holztrocknungen für den Glockenstuhl, Verfugungen der Glockenstube gegen Absandung, Steinmetzarbeiten nach Abbau der alten Schallläden, ein zweites abschließendes Schwingungsgutachten für den Turm u.s.w.
Ein fünftes ergänzendes Förderprojekt musste noch angehängt werden, das erst im Februar 2009 mit einer Nachintonation und Arbeiten zur Beseitigung erster Schäden abgeschlossen werden konnte.
Der Verlauf der Arbeiten
1. Teilprojekt G06-1: Stabilisierung ders Nordturmes und Herstellung des Glockenstuhles.
Die Firma REMA aus Magdeburg legte 18 etwa 10 m lange Edelstahlanker horizontal in die Wände des Turmes. Bei den zuvor erforderlichen Bohrungen lief beängstigend viel von dem Spülwasser in das mürbe mittelalterliche Gemäuer, was zu unserer Erleichterung ohne weitere Schäden blieb. Dann folgten über 65 Stahlnadeln (Ø etwa 2 cm), die senkrecht in die Wände geschoben wurden.
Den Zeitplan brachte der milde Winter ohne Nachtfröste durcheinander. Der Saftfluss in den zu fällenden Eichen kam nicht zum Stillstand. Sie wurden erst Ende Januar 2007 gefällt und mussten mehrmals in Trockenkammern vor ihrer Verarbeitung behandelt werden. Es gelang der Firma Weise aus Leubsdorf nur knapp, den Glockenstuhl bis zu seinem Montagetermin in Zerbst fertig zu stellen.
Die Kosten dieses Teilprojektes überstiegen die Planung um 9,1%
2. Teilprojekt G06-2: Restaurierung der historischen Glocken.
Nachdem die Firma aus Kölleda zwei Glocken am April 2006 vom Turm gehoben hatte, wurden diese mit den 3 weitere alten Glocken zur Glockenschweißerei Lachenmeier nach Nördlingen in Bayern gebracht. Um innere Spannungen auszuschließen, wurden die Glocken dort auf etwa 500 Grad erhitzt und bei dieser Temperatur geschweißt.
Das war bei der besonders stark beschädigten Nicolaiglocke erst nach langen Voruntersuchungen möglich. Die Gloriosa offenbarte erst nach ihrer ersten Schweißung einen langen Riss durch die Kappe, der eine erneute Schweißung nötig machte. Dadurch kostete allein die Restaurierung der großen Glocke über 49000 €.
Im April 2007 konnten alle Glocken als restauriert abgenommen werden. Die Kosten stiegen um 23,4% gegenüber dem Plan.
3. Teilprojekt G07: Neuguss einer Glocke“
Da für einen Neuguss mit Fördermitteln nicht zu rechnen war, wurde nach Großspendern, den „Stiftern“, öffentlich gesucht. In kürzester Zeit stellten Zerbster Bürger die Summe von 17000 € zur Verfügung, was die Herstellung der Glocke ermöglichte. Die Stifter bestimmten zur Gießerei die Kunstgießerei Lauchhammer.
Nachdem die historischen 4 Läuteglocken in Nördlingen restauriert worden waren, nahmen Dr. Thümmel und Prof. Menschik eine Klanganalyse vor. Im Ergebnis wurden die Parameter der neu zu gießenden Glocke festgelegt. Inschrift und Zier entwarf der Grafik-Designer Karl-Heinz Lötzsch aus Dresden. Die Rückseite der Glocke sollte das Stadtwappen tragen.
Zum Guss am 29.06.2007 fuhren über 30 Interessierte mit einem Bus nach Lauchhammer, um den Vorgang mitzuerleben. Nach dem Erkalten, einige Tage später, wurde die Glocke ausgepackt, geputzt und zur Werkabnahmeprüfung vorgestellt. Der beauftragte Sachverständige Dr. Thümmel erklärte den Guss für gelungen, obwohl der Grundton etwas zu hoch ausgefallen war. Die Glocke wurde nach seiner Empfehlung ohne Nachbearbeitung abgenommen.
Am 27.07. ist die Glocke vor dem Heidetor vom Bürgermeister begrüßt und in einem Umzug zur Nicolaikirche begleitet worden. Dort erhielt sie unter großer Anteilnahme der Bevölkerung ihre kirchliche Weihe. Sie ist seitdem Bestandteil des am 01. September 2007 in Betrieb genommenen großen Geläutes der Nicolaikirche.
4. Teilprojekt G07-2: Hängung und Installation des Geläutes.
Gemeinsam mit den historischen Glocken wurde auch die Stifterglocke am 01.08.2007 auf den Glockenturm gehoben, es folgten die Teile des Glockenstuhles. In den nächsten 4 Wochen erfolgte die Montage des Glockenstuhles mit den Jochen und die Hängung der Glocken. Die Firma Graetz aus Coswig/Sa, hatte parallel die Schallläden eingebaut.
Dann erfuhren wir, dass bei einigen der Klöppel der Erstguss misslungen war. Sie trafen verspätet erst am 27.08. auf der Baustelle ein und wurden sofort eingehängt, d.h. mit Ledermanschetten an den Hangeisen befestigt.
Bis zur schon lange vorbereiteten Einweihung am 01.09.2007 spitzten sich die Schwierigkeiten nochmals zu. Alle Zeitpolster waren zuvor aufgebraucht worden, so dass die Intonation, die Einstellung der Antriebsteuerungen für ein gleichmäßiges Läuten, erst für den Vortag angesetzt werden konnte. Zusammen mit Dr. Thümmel erklommen wir gegen 13,00 Uhr den Turm.
Einer der Monteure sprach von Schwierigkeiten, die sie noch hätten. Die Glocken gaben keinen Ton von sich. Nach geduldigem Warten und immer hektischer werdender Tätigkeit der Monteure kam gegen 17,00 der niederschmetternde Bescheid: „Wir haben keine Chance. Es sind die falschen Module geliefert worden“. Das sind die elektronischen Steuerelemente für die Linearmotoren der Läutemaschinen. Die richtigen lagen aber nicht am Firmensitz in Heidenau. Nicht einmal die belgische Zulieferfirma hatte sie am Lager, sondern musste sie erst beim Hersteller beschaffen - vielleicht in Südostasien?
Da zur Einweihung am nächsten Tag mit vielen geladenen Gästen und einem großen Besucheransturm zu rechnen war, wollte sich spontane Ratlosigkeit ausbreiten.
Die rettende Idee kam von Herrn Thumsch, dem Geschäftsführer der ausführenden Firma. Seine Monteure fuhren zurück nach Heidenau und kamen frühmorgens mit Elementen einer nicht ganz modernen Steuertechnik wieder, bei der die Magnetfelder über Lichtschranken umgeschaltet werden.
Am Vormittag des 1.9. wurden sie eingebaut und um 13,00 Uhr begann die Einweihungsfeier vor vielen Besuchern.
Das war knapp! Von den Problemen wurde zunächst nichts mitgeteilt, um die Aufmerksamkeit nicht auf Unzulänglichkeiten zu lenken, wie sie bei dem noch nicht intonierten Geläut zu erwarten waren.
An der Einweihungsfeier des Geläutes am 1. September 2007 in der Kirche nahmen über 1000 Personen teil. Die Feier wurde von allen Anwesenden als sehr emotional empfunden.
Der Vorsitzende fand in seiner Festrede Worte des Dankes für alle Akteure des Vorhabens, insbesondere die Geldgeber und die vielen Zerbster, auch die ehemaligen, die die sogenannten Eigenanteile des Projektträgers zusammengesteuert hatten. Folgend einige Sätze im Wortlaut:
„Heute ist der Weltfriedenstag. Im Jahr 1939 am 01.September begann der fürchterlichste aller Kriege, der 2. Weltkrieg. Zur Erinnerung und zur Mahnung ist dieses Datum für den Weltfriedenstag gewählt worden. Durch die größte Katastrophe in der Stadtgeschichte am 16. April 1945 wurde die Stadt Zerbst zu großen Teilen vernichtet. ……… Bis heute versuchen die Zerbster, die Reste alter und wertvoller Substanz zu bewahren und damit ihre Identität wieder zu stärken. In diesem permanenten Bemühen wird der heutige Tag zu einem bedeutsamen Ereignis. Dass wir gerade am Weltfriedenstag das wiederhergestellte Geläut einweihen können, ist eine sinnfällige Fügung.
Glocken sind Symbole des Friedens. Die zweitgrößte der unseren trägt bereits den Namen Friedensglocke. So soll dieses Geläut das Symbol für eine dauerhaft friedliche Entwicklung der Stadt Zerbst werden.“
Als das Geläut von Dr. Thümmel ohne Probleme vorgestellt werden konnte, war den Akteuren die Erleichterung anzumerken.
Den anwesenden Campanologen war die fehlende Intonation natürlich nicht entgangen und wurde zum Hauptthema im anschließenden Fachgespräch in der Trinitatiskirche.
Am 4. Oktober konnte das vorgesehene Steuersystem eingebaut werden. Das Geläut ist über eine Bedientastatur, ein Fernbedienelement oder eine programmierbare Schaltuhr läutbar. Die nachgeholte Intonation am 10.10. durch Dr. Thümmel erbrachte eine gute Läutbarkeit aller Glocken mit Gleichmäßigkeit der Anschläge bei einem möglichst kleinen Läutewinkel.
Mit der Abnahme des Geläuts durch Dr. Thümmel und Prof. Kempe im Auftrag des Auftraggebers / Projektträgers ist das Vorhaben am 15.10.2007 erfolgreich bis zur Funktionsfähigkeit des Geläutes geführt worden.
5. Teilprojekt G2008: Ergänzungsmaßnahmen
Die Ausgabenplanung musste mehrfach geändert werden, die im Finanzierungsplan ausgewiesenen Beiträge der weiteren Förderpartner blieben dabei ungeändert. Deshalb hatte sich der Eigenanteil ständig vergrößern müssen. Er wurde zum erheblichen Teil durch die Kirchengemeinde sowie durch Spenden aus der Bevölkerung aufgebracht.
Weitere Arbeiten und Vorgänge, die dem Vorhaben „Historisches Geläut“ zuzuordnen waren, konnten in den 4 Förderprojekten nicht mehr untergebracht werden. Der Hauptgrund war die momentane Unmöglichkeit, sie zu finanzieren.
Für den gesamten Turmbau wurde ein zweites Schwingungsgutachten erforderlich, da die Turmstabilisierung die Eigenfrequenzen der Turmschwingungen geändert hatte.
Ein Aufgang zum Glockengeschoss, die Schließung einer Öffnung im Boden der Glockenstube und deren Beleuchtung sind weitere Ergänzungen des Projektes. An den Schallläden wurden nachträgliche Verbesserungen erforderlich.
In Verbindung mit der Gewährleistungsplicht war auch ein kostenträchtiger Wartungsvertrag mit der betreffenden Firma GLEA Heidenau über 5 Jahre abzuschließen.
In Hinblick auf die nicht geplanten Kosten wandte sich der Verein nochmals mit einem Hilfeersuchen an die Oetkerstiftung. Diese stellte weitere 13000 € zur Verfügung und zählt damit zu den wichtigsten Geldgebern für das gesamte Vorhaben.
Eine Aufrechnung der gesamten Kosten für das Geläut ergab die stolze Summe von 390598,94 €.
Die Öffentlichkeit
Die denkmalschützerischen Arbeiten an der Nicolaikirche und die Entstehung des Geläutes stellten von Beginn an eine regionalöffentliche Angelegenheit dar, über die die Volksstimme in kurzen Abständen informierte.
Im Hörfunk (MDR Info) und im MDR-Fernsehen wurde über das Projekt in seinen regionalen Bezügen berichtet. Dies war vor allem zu besonders spektakulären Ereignissen der Fall, die stets eine große Zahl von Schaulustigen anzogen (Abnahme der großen Glocke vom Turm, Glockenguss, Empfang u. Weihe der Stifterglocke, Hebung aller Glocken auf den Turm, Hängung des Geläutes, Einweihungsfeier).
Literatur: In dem 2007 erschienenen Buch „Gegossene Vielfalt“ von Konstanze Treuber wird dem Geläut der Zerbster Nicolaikirche ein Kapitel gewidmet. Eine Hör-CD von der Einweihungsfeier des Geläutes am 01.09.2007 ist beim Förderkreis erhältlich, eine weitere mit gesprochenen Texten und Orgeleinspielungen erscheint in diesen Tagen.
Verzeichnis der vorhandenen Glocken, geordnet nach ihrer Größe (Stand: 1991):
- Gloriosa von 1378, Ǿ 1,95m, größte Glocke in Anhalt, sehr gut erhalten. Sie hängt im Nordturm.
Mehrere Gutachten zum hohen klanglichen und historischen Wert, vergleichbar mit berühmten Glocken in Erfurt, Köln, Halberstadt und Dresden. - Friedensglocke von 1660 (letzter Umguss), Ǿ 1,60m, Höhe 1,62m, davon Krone 37cm, drittgrößte Glocke in Anhalt, beschädigt. Alter Glockenspruch preist den Frieden. Sie dürfte ursprünglich im 13.Jahrhundert gegossen und 1443 umgegossen worden sein.
Sie ist durch den Brand abgestürzt und weist einen größeren Ausbruch am unteren Rand auf. Sie muss vor erneuter Benutzung repariert werden.
Die Glocke ist im Innenraum der Nicolaikirche aufgestellt. - Nicolaiglocke von 1477 (ebenfalls umgegossen), Ǿ 1,10m, beschädigt, Glockenspruch um 1300, Relief des heiligen Nicolai. Sie ist ebenfalls abgestürzt, hat einen großen und verzweigten Riss, die Krone fehlt. Sie muss daher sehr aufwendig repariert werden.
Die Glocke ist im Innenraum der Nicolaikirche aufgestellt. - Ehemals große Uhrenglocke von 1443), Ǿ 0,75m, hängt im Nordturm, wird geläutet.
Die Krone wurde entfernt, als die Glocke 1934 einen stählernen Glockenstuhl mit gekröpftem Joch erhielt. - Ehemals kleine Uhrenglocke von 1418, Ǿ 0,45m, beschädigt, die Krone fehlt.
Die Glocke befindet sich in der Trinitatiskirche.
Zu dem Vorhaben, das komplette Geläut wieder herzustellen, siehe unter Perspektive.
Hier finden Sie ein kunsthistorisches Gutachten von Dr. R. Thümmel zum Geläut der Nicolai-Kirche in Zerbst
Dr.Rainer ThümmelSachverständiger für Geläute und Turmuhren
Goethestraße 26
01445 Radebeul
Tel./Fax: 0351/8363058
Radebeul, 11. November 2005
Kulturhistorische Bedeutung des denkmalgeschützten Glockengeläutes der Kirche St. Nicolai zu Zerbst
Von den ursprünglich 7 datierten historischen Glocken (vgl. F.W. Schubart: Die Glocken im Herzogtum Anhalt. Dessau 1896, S. 507 - 524) der Kirche St. Nicolai blieben trotz Beschlagnahme der Bronzeglocken in beiden Weltkriegen und Zerstörung der Kirche im Jahr 1945 die drei großen zusammengehörenden von 1378 (Mit einem Nominal h° - 7 bei einem unteren Durchmesser von 1950 mm und einem Gewicht von ca. 5200 kg die größte anhaltinische Glocke), 1660 (Mit einem Nominal c‘ - 4 bei einem unteren Durchmesser von 1610 mm und einem Gewicht von ca. 3050 kg die drittgrößte anhaltinische Glocke) und 1477 neben der größeren Uhrschlagglocke von 1443 erhalten und bilden zusammen mit der kleinsten Glocke von1418 des ursprünglichen Bestandes sowohl das größte und bedeutendste Glockengeläut Anhalts als auch ein herausragendes Ensemble von nationaler Bedeutung des Kunsthandwerks und der Gießkunst, der Epigraphik und auch liturgischer Musikinstrumente.
Die als musikalische Basis dienende größte Glocke aus dem Jahr 1378 gehört neben der Heinrichsglocke von 1311 des Bamberger Domes (unterer Durchmesser 1799 mm) und der Glocke von 1345 der Kirche Divi Blasii (unterer Durchmesser 1909 mm) zu den drei größten und schwersten erhalten gebliebenen Glocken des 14. Jahrhunderts in Deutschland (vgl. Claus Peter: Die Glocken der Stadt Mühlhausen /Thüringen. Erfurt 2002, S. 13) und hat unter diesen drei Glocken den größten unteren Durchmesser.
Ist schon die zweite Nicolai-Glocke von 1660 ein ganz excellent ausgeführtes Gussstück, das mit ihrer Inschrift, sowohl in großen Antiquabuchstaben als auch in Fraktur ausgeführt, und ihrer Zier - außen auf dem Schlagring wird viermal das Siegel der Stadt gezeigt - an die untergegangene Vorgängerglocke von 1443 erinnert, so wird diese von der größten Glocke von 1378 noch weit übertroffen. Über diese Glocke aus dem 14. Jh. als „ein überaus bedeutendes, jenseits allen Vergleichs liegendes Werk ihrer Zeit“ (vgl. Claus Peter: Glocken der St. Nicolaikirche zu Zerbst (Anhalt) unveröff. Ms. 18.05.1992) wurde bereits im 19. Jh. geurteilt: „ein Meisterwerk, was Größe, Klang und Ausstattung betrifft“ (a.a.O F.W.Schubart, S. 508). Der nicht überlieferte Gießer muss ein Meister seines Faches gewesen sein, der sonore Klangentfaltung des Musikinstrumentes Großglocke, sauberste Gussausführung und hervorragende bild- und schriftkünstlerische Gestaltung gleichermaßen beherrschte und damit höchste Ansprüche seiner damaligen Auftraggeber zufriedenstellen konnte. Unter den 42 aufgegossenen Bildern mit insgesamt 16 verschiedenen inhaltlichen Darstellungen sind neben Kruzifixus, Kreuzigungsgruppe, Maria als Königin, Aposteln und den 4 Evangelisten besonders der Schutzheilige der Kirche St. Nicolaus als Bischof mit Krummstab und –höchstwahrscheinlich - auch das alte Siegel oder Wappen der Stadt Zerbst von ganz besonderer Bedeutung für die Geschichte von Stadt und Kirche.
Die dritte Glocke von 1477, eventuell von dem Gießer Jaur in Halle gegossen, erinnert mit ihrer in gut lesbarer hoher Minuskelinschrift ausgeführten Inschrift an ihre untergegangenen Vorgängerglocken aus der Zeit um 1300 bzw. von 1440, die im Zusammenhang mit der Pulverexplosion von 1475 beschädigt oder ganz zerstört wurde. Mit zwei auf der Flanke. aufgegossenen Bildern ist diese Glocke beidseitig geziert: Christus als Pantokrator und St. Nicolaus als Bischof mit Krummstab und Beutel. Auch diese Glocke ist durch diese Widmung für die Geschichte von Kirche und Stadt von nicht hoch genug zu bewertender Bedeutung angesichts auch der weitestgehenden Zerstörung der originalen Ausstattung der größten Kirche Anhalts (vgl. Heike Ingrid Derscheid: Die Stadtkirche St. Nikolai zu Zerbst. Oschersleben 1994).
Die vierte kleinste Läuteglocke von 1418, zeitweise als Schlagglocke für den Viertelstundenschlag verwendet, enthält in ihrer gut lesbaren Minuskelinschrift den Namen des Heiligen Johannes.
Die große Uhrschlagglocke von 1443 enthält in ihrer Minuskelinschrift den Hinweis, daß sie zu Weihnachten („Am Geburtstagsfest Jesu“) gegossen worden ist, was eine seltene Besonderheit für eine historische Glocke aus dem 15. Jh. darstellt.
Die z.T. mehr als 100 Jahre alten Schäden, bedingt auch bei der Glocke von 1477 durch ihren Absturz im Zusammenhang mit der Zerstörung der Kirche 1945 und unsachgemäße Eingriffe in die Originalsubstanz dieser hochbedeutsamen historischen Musikinstrumente, lassen sich dank des seit mehreren Generationen erreichten Standes der Restaurierungstechnik für Bronzeglocken vollständig denkmalgerecht beseitigen (im einzelnen beschrieben im Gutachten des Verf.: Wiederherstellung denkmalgeschütztes Glockengeläut der Kirche St. Nicolai zu Zerbst. Radebeul, 30. November 2004), das wie wieder so vollkommen erklingen, wie zur Zeit ihrer Entstehung. Nur die gemeinsame Hängung der Glocken von 1378, 1660, 1477 und 1418, ergänzt durch einen qualitätvollen Zuguss für den Ersatz der untergegangenen fünften Läuteglocke, ergibt den erstrebten Zusammenklang dieses weit und breit einzigartigen Glockenensembles. Geläutet an geraden Holzjochen und aufgehängt in einem hölzernen Glockentragwerk, jeweils aus Eiche gefertigt, aus baulichen Gründen und wegen des erforderlichen Platzbedarfes nur in der Glockenstube – mit vier entsprechend ausgebildeten hölzernen Schallläden nach außen abgeschlossen – des instandzusetzenden Nordturm möglich, werden diese Glocken mit ihrem unvergleichlichen Klangbild Gott zur Ehre und den Menschen zur Freude erklingen.
Wenn dieses historische Glockengeläut wieder aus - der Ruine - der hochberühmten Kirche St. Nicolai vollendet erschallen wird, wie seit Jahrhunderten nicht mehr, wird das von ihren Zuhörern neben der Würdigung als denkmalpflegerisch und kulturhistorisch bedeutende Leistung auch sicher als hoffnungsvolles Zeichen für die weitere Heilung kriegsbedingter Wunden in der Stadt Zerbst und dem Land Sachsen-Anhalt verstanden werden.
Dr. Rainer Thümmel
Läuteordnung des Geläutes der St.Nicolai-Kirche Zerbst
Aufstellung für Programmierung
Name | Gussjahr | Masse | Nutzungsname | Ton/Nominal | |
---|---|---|---|---|---|
Glocke 1 | Gloriosa | 1387 | 4.540 kg | Festglocke | ho |
Glocke 2 | Apostel | 1660 (1443) | 2.620 kg | Friedensglocke | c´ |
Glocke 3 | Nicolai | 1477 | 1.510 kg | Verkündigungsglocke | e´ |
Glocke 4 | Stifter | 2007 | 938 kg | Stadtglocke | g´ |
Glocke 5 | Johannes | 1418 | 102 kg | Taufglocke | a´ |
Stundengeläut
Werktags Montag bis Samstag: Mittagsläuten von 12:00 – 12:03 Uhr - Glocke 2
nicht an Feiertagen, nicht am Samstag vor Ostern
Werktags Montag bis Freitag: Abendläuten von 18:00 – 18:05 - Glocke 4
nicht an Feiertagen, nicht am Heiligabend
Läuten für Gottesdienste, an Feiertagen und sonstigen Anlässen
Anlass | Einläuten | Vorläuten | Zusammenläuten |
---|---|---|---|
Samstag vor normalem Sonntag | 4+3+2 | - | - |
Normale Sonntage | - | 2+3 | 4+3+2 |
Tag vor Christfesten (Neujahr, Palmsonntag, Erntedank, Reformationsstag, Ewigkeitssonntag, 1.Advent) | 5+4+3+2 | 1+3 | 5+4+3+2 |
Weihnachten, Ostern, Pfingsten | 5+4+3+2+1 | 1+2+3 | 5+4+3+2+1 |
Christvespern | - | 1+2+3 | 5+4+3+2+1 |
Silvestergottesdienst | - | 2+3+4 | 5+4+3+2 |
Silvester 24,00 – 0,15 | - | - | 5+4+3+2+1 |
16.April 10,15 – 10,30 | - | - | 5+4+3+2+1 |
Sonntage der Osterzeit 35 min vor Gottesdienst | - | 1+2 | 3+2+1 |
Auferstehungsgeläut Sonntagnacht 5:30 – 6:00 | - | - | 3+2+1 |
Sonntage der Advents- u. Passionszeit Buß- u. Bettag 35 min vor Gottesdienst |
- | 1+3 | 4+3+1 |
Karfreitag 15:00 – 15:05 | - | - | 1 |
Taufe | - | - | 5 |
Trauung | - | - | 4+3+2 |
Trauerfeier / Beerdigung | - | - | 2 |
Am Ende des Gottesdienstes werden die Glocken des Zusammenläutens wie zu Beginn des Gottesdienstes geläutet. Aus gegebenem Anlass kann bei der Kirchengemeinde ein Sonderläuten beantragt werden.
Dr.Rainer ThümmelSachverständiger für Geläute und Turmuhren
Goethestraße 26
01445 Radebeul
Tel./Fax: 0351/8363058
Radebeul, 11. November 2005
Kulturhistorische Bedeutung des denkmalgeschützten Glockengeläutes der Kirche St. Nicolai zu Zerbst
Von den ursprünglich 7 datierten historischen Glocken (vgl. F.W. Schubart: Die Glocken im Herzogtum Anhalt. Dessau 1896, S. 507 - 524) der Kirche St. Nicolai blieben trotz Beschlagnahme der Bronzeglocken in beiden Weltkriegen und Zerstörung der Kirche im Jahr 1945 die drei großen zusammengehörenden von 1378 (Mit einem Nominal h° - 7 bei einem unteren Durchmesser von 1950 mm und einem Gewicht von ca. 5200 kg die größte anhaltinische Glocke), 1660 (Mit einem Nominal c‘ - 4 bei einem unteren Durchmesser von 1610 mm und einem Gewicht von ca. 3050 kg die drittgrößte anhaltinische Glocke) und 1477 neben der größeren Uhrschlagglocke von 1443 erhalten und bilden zusammen mit der kleinsten Glocke von1418 des ursprünglichen Bestandes sowohl das größte und bedeutendste Glockengeläut Anhalts als auch ein herausragendes Ensemble von nationaler Bedeutung des Kunsthandwerks und der Gießkunst, der Epigraphik und auch liturgischer Musikinstrumente.
Die als musikalische Basis dienende größte Glocke aus dem Jahr 1378 gehört neben der Heinrichsglocke von 1311 des Bamberger Domes (unterer Durchmesser 1799 mm) und der Glocke von 1345 der Kirche Divi Blasii (unterer Durchmesser 1909 mm) zu den drei größten und schwersten erhalten gebliebenen Glocken des 14. Jahrhunderts in Deutschland (vgl. Claus Peter: Die Glocken der Stadt Mühlhausen /Thüringen. Erfurt 2002, S. 13) und hat unter diesen drei Glocken den größten unteren Durchmesser.
Ist schon die zweite Nicolai-Glocke von 1660 ein ganz excellent ausgeführtes Gussstück, das mit ihrer Inschrift, sowohl in großen Antiquabuchstaben als auch in Fraktur ausgeführt, und ihrer Zier - außen auf dem Schlagring wird viermal das Siegel der Stadt gezeigt - an die untergegangene Vorgängerglocke von 1443 erinnert, so wird diese von der größten Glocke von 1378 noch weit übertroffen. Über diese Glocke aus dem 14. Jh. als „ein überaus bedeutendes, jenseits allen Vergleichs liegendes Werk ihrer Zeit“ (vgl. Claus Peter: Glocken der St. Nicolaikirche zu Zerbst (Anhalt) unveröff. Ms. 18.05.1992) wurde bereits im 19. Jh. geurteilt: „ein Meisterwerk, was Größe, Klang und Ausstattung betrifft“ (a.a.O F.W.Schubart, S. 508). Der nicht überlieferte Gießer muss ein Meister seines Faches gewesen sein, der sonore Klangentfaltung des Musikinstrumentes Großglocke, sauberste Gussausführung und hervorragende bild- und schriftkünstlerische Gestaltung gleichermaßen beherrschte und damit höchste Ansprüche seiner damaligen Auftraggeber zufriedenstellen konnte. Unter den 42 aufgegossenen Bildern mit insgesamt 16 verschiedenen inhaltlichen Darstellungen sind neben Kruzifixus, Kreuzigungsgruppe, Maria als Königin, Aposteln und den 4 Evangelisten besonders der Schutzheilige der Kirche St. Nicolaus als Bischof mit Krummstab und –höchstwahrscheinlich - auch das alte Siegel oder Wappen der Stadt Zerbst von ganz besonderer Bedeutung für die Geschichte von Stadt und Kirche.
Die dritte Glocke von 1477, eventuell von dem Gießer Jaur in Halle gegossen, erinnert mit ihrer in gut lesbarer hoher Minuskelinschrift ausgeführten Inschrift an ihre untergegangenen Vorgängerglocken aus der Zeit um 1300 bzw. von 1440, die im Zusammenhang mit der Pulverexplosion von 1475 beschädigt oder ganz zerstört wurde. Mit zwei auf der Flanke. aufgegossenen Bildern ist diese Glocke beidseitig geziert: Christus als Pantokrator und St. Nicolaus als Bischof mit Krummstab und Beutel. Auch diese Glocke ist durch diese Widmung für die Geschichte von Kirche und Stadt von nicht hoch genug zu bewertender Bedeutung angesichts auch der weitestgehenden Zerstörung der originalen Ausstattung der größten Kirche Anhalts (vgl. Heike Ingrid Derscheid: Die Stadtkirche St. Nikolai zu Zerbst. Oschersleben 1994).
Die vierte kleinste Läuteglocke von 1418, zeitweise als Schlagglocke für den Viertelstundenschlag verwendet, enthält in ihrer gut lesbaren Minuskelinschrift den Namen des Heiligen Johannes.
Die große Uhrschlagglocke von 1443 enthält in ihrer Minuskelinschrift den Hinweis, daß sie zu Weihnachten („Am Geburtstagsfest Jesu“) gegossen worden ist, was eine seltene Besonderheit für eine historische Glocke aus dem 15. Jh. darstellt.
Die z.T. mehr als 100 Jahre alten Schäden, bedingt auch bei der Glocke von 1477 durch ihren Absturz im Zusammenhang mit der Zerstörung der Kirche 1945 und unsachgemäße Eingriffe in die Originalsubstanz dieser hochbedeutsamen historischen Musikinstrumente, lassen sich dank des seit mehreren Generationen erreichten Standes der Restaurierungstechnik für Bronzeglocken vollständig denkmalgerecht beseitigen (im einzelnen beschrieben im Gutachten des Verf.: Wiederherstellung denkmalgeschütztes Glockengeläut der Kirche St. Nicolai zu Zerbst. Radebeul, 30. November 2004), das wie wieder so vollkommen erklingen, wie zur Zeit ihrer Entstehung. Nur die gemeinsame Hängung der Glocken von 1378, 1660, 1477 und 1418, ergänzt durch einen qualitätvollen Zuguss für den Ersatz der untergegangenen fünften Läuteglocke, ergibt den erstrebten Zusammenklang dieses weit und breit einzigartigen Glockenensembles. Geläutet an geraden Holzjochen und aufgehängt in einem hölzernen Glockentragwerk, jeweils aus Eiche gefertigt, aus baulichen Gründen und wegen des erforderlichen Platzbedarfes nur in der Glockenstube – mit vier entsprechend ausgebildeten hölzernen Schallläden nach außen abgeschlossen – des instandzusetzenden Nordturm möglich, werden diese Glocken mit ihrem unvergleichlichen Klangbild Gott zur Ehre und den Menschen zur Freude erklingen.
Wenn dieses historische Glockengeläut wieder aus - der Ruine - der hochberühmten Kirche St. Nicolai vollendet erschallen wird, wie seit Jahrhunderten nicht mehr, wird das von ihren Zuhörern neben der Würdigung als denkmalpflegerisch und kulturhistorisch bedeutende Leistung auch sicher als hoffnungsvolles Zeichen für die weitere Heilung kriegsbedingter Wunden in der Stadt Zerbst und dem Land Sachsen-Anhalt verstanden werden.
Dr. Rainer Thümmel