Förderkreis St. Nicolai Zerbst e.V.

Geschichte der Nicolaikirche

Die Geschichte der Nicolaikirche ist die Geschichte der Stadt Zerbst, zugleich aber auch Zeugnis der deutschen Religionsgeschichte seit der Reformation wie auch der des Fürstenhauses Anhalt. Die romanische Basilika als Mittelpunkt frühester Stadtentwicklung, der spätgotische Chorbau als Symbol für Reichtum und Selbstbewusstsein in der Blütezeit um 1400 und die Zerstörung der Stadt mitsamt ihrer Kirche 1945 sind besondere Schnittstellen gemeinsamer Historie. Im Widerspruch und zugleich eng miteinander verbunden sind die Erhaltungsmaßnahmen des Baudenkmals St. Nicolai und die problematische Stadtentwicklung seit 1990. Im Jahr 1994 erschien im Ziethen-Verlag die Monographie „Die Stadtkirche St. Nikolai zu Zerbst“, sie ist heute noch erhältlich (ISBN 3-928703-20-X). Einen Artikel aus dieser Schrift gibt Ihnen der Beitrag: Die Rolle der Nicolai-Kirche in der Stadtgeschichte von Zerbst von Erich Hänze und Walter Tharan

Die Rolle der Nicolaikirche in der Stadtgeschichte

Die Quelle dieser Darstellung ist der Artikel unter gleicher Überschrift im „Nicolaibuch“ des Ziethen-Verlages, erhältlich im Buchhandel unter ISBN 3-928703-20-X. Literaturangaben folgen am Schluss. Wenn sich heute jemand mit der Zerbster Stadtgeschichte befasst, so wird ihm schnell klar, dass er gegenüber den bekannten Vorbildern wie Wäschke, Sickel, Schulze und Specht Vergleichbares nicht leisten kann. Die Quellenlage ist unvergleichlich schlechter, da ein großer Teil des Archivgutes 1945 verlorengegangen ist und wir über den Verbleib der ausgelagerten Bestände wenig wissen. So soll der folgende Beitrag lediglich einen Gesichtspunkt herausarbeiten, der nicht nur Interesse verdient, sondern durch die Bemühungen um die Rettung der Nicolaikirche einem besonderen Anliegen dient. Es soll sichtbar gemacht werden, welche zentrale Rolle dieser Kirche und ihrer Gemeinde in der Geschichte der Stadt Zerbst und des Fürstentums Anhalt zukommt

1. Vorgeschichte

Die "Wissenschaft des Spatens" bringt durch viele Bodenfunde den Nachweis, dass unsere Heimat in grauer Vorzeit von Volksstämmen der Germanen bewohnt wurde. Diese wanderten um 400 u.Z. nach Westen und Süden aus, und von Osten nachrückende Slawen, in unserer Gegend der Stamm der Morzani, besiedelten diese Gebiete. Im 10. Jahrhundert begann unter Heinrich I. die Ostexpansion des Deutschen Reiches über die mittlere Elbe hinaus. Die Unterwerfung der slawischen Stämme ging mit ihrer gewaltsamen Christianisierung einher. Eine slawische Burg, auf drei Seiten von Wasserläufen der Nuthe umgeben, wurde von den Deutschen übernommen, in deren Schutz die Ansiedlung von Handwerkern, Bauern und Kaufleuten aus dem Westen erfolgen konnte.

Deutsche Orte entstanden oft aus slawischen dörflichen Siedlungen, deren Bewohner entweder vertrieben oder allmählich von den deutschen oder flämischen Kolonisten assimiliert wurden. Dies könnte für den weiter nördlich zwischen den Nuthearmen liegenden Sandrücken (um den Markt, auf der Heide) zutreffen. Die alten Ortsnamen blieben zumeist erhalten; "Ciervisti" ist die slawische Wurzel von "Zerbst". Eine große Rolle spielte auch die günstige Lage als Handelsplatz. Dieses christliche Gemeinwesen baute sich eine erste Kirche für seine Bedürfnisse, wahrscheinlich eine kleine Holzkirche, die bald durch eine stattliche romanische Basilika ersetzt wurde. Wie in sehr vielen Städten Norddeutschlands mit flämischer Besiedlung wurde sie dem Schutzheiligen der Kaufleute und Seefahrer Nicolaus geweiht, "Sankt Niklas".

Von ihrem Aussehen wissen wir wenig. Die ersten Stadtsiegel von 1298 und 1355 zeigen allerdings eine romanische Kirche mit drei Turmspitzen, ähnlich, wie sie St. Nicolai auch später besaß. Im Jahr 948 wurde der slawische Gau Ciervisti dem neugegründeten Bistum Brandenburg zugeordnet. Der Bischof musste jedoch bei dem großen Slawenaufstand im Juli 983 fliehen. Er nahm seinen Sitz zeitweise in Leitzkau; die heutige Dorfkirche wurde zur Bischofskirche. Nachdem Albrecht der Bär 1157 den Bischofssitz Brandenburg endgültig wiedererobert hatte, kehrte der Bischof 1161 dorthin zurück. Leitzkau wurde der Sitz eines Archidiakonats, zu dem auch die Zerbster Kirchen gehörten. Dorthin, nach Leitzkau, war der Kirchenzins von St.Nicolai zu entrichten.

Bei der Weihe der Bartholomäikirche 1215 war Pfarrer Heinricus von St. Nicolai als Zeuge anwesend. Dessen Kirche war also bereits vollendet, denn aus den nächsten Jahrhunderten wird von großen Baumaßnahmen an der Nicolaikirche nichts berichtet.

1261 entschied der Bischof von Brandenburg einen Streit des Pfarrers von St. Nicolai mit der Stadt. Demnach sollte der Naturalzehnt des Pfarrers in die Geldsumme von jährlich 26 Schillingen umgewandelt werden. Jeder Hufenbauer der Heidesiedlung hatte einen Schilling zu entrichten.

Wie eine Urkunde König Ottos IV. vom 19. Mai 1209 bezeugt, war Zerbst als Reichslehen zu dieser Zeit im Besitz der "Herren von Zerbst", doch ging die Lehnshoheit im Jahre 1253 an den Markgrafen von Brandenburg über.

Am 13. Juli 1262 beurkundete Richard, Herr von Zerbst, der Stadt Zerbst das Recht der Zollfreiheit, einer Steuerfreiheit im heutigen Sinne, für das sie an ihn fünf Jahre lang eine hohe Summe Geldes gezahlt hatte. Als Richard die Herrschaft Zerbst 1262 an die Herren von Barby verkaufte, ließ er dieses Recht ausdrücklich bestätigen.

Das für den raschen Aufstieg der Stadt so wichtige Privileg wird vom Zerbster Bürgermeister Peter Becker 200 Jahre später gewürdigt, dessen Chronik von Zerbst mit folgenden Worten beginnt:
"For dat irste schall einjowelk (jeder) weten unde andachte hebben, dat in der tijd, so man schreff na godes gebort Christi MCCLIX jare in dem mane Februario de wolgeborn er (Herr) Richard van Czervest, thu der tijd ein herre dusser stad Czervest, dusse werdige stad Czervest unde de inwonere hefft gefriet van allen tollen (Steuern), van dem minsten wen up dat groteste ...
Item schall ein jowelk weten, dat in den tijden, do desse werdige stad Czervest so von oreme erffheren (ihrem Erbherrn), alse van deme van Czervest, gefriet is van allen tollen, dat thu der tijd de genanten van Czervest de stad to lehne emphingen van deme marggraven van Brandemborgh, unde de sulven marggreven van Brandemborgh alse overherren hebben oren willen unde fulbort darthu geven ... dat de stad Czervest schall van allen tollen gefriet sin ..."

Die letzten Reste des Steuerprivilegs gingen erst 1681 verloren <Be IV,IV,8>.

Hier soll angemerkt sein, dass Reinhold Specht (Chronik von 1954) der Meinung ist, die Quellen würden Peter Becker als Autor der ersten Zerbster Chronik, die den Zeitraum von 1259 bis 1445 behandelt, nicht wirklich nachweisen.

2. Die Askanier in Zerbst

Als 1307 die Askanier die Herrschaft in Zerbst antraten, sahen sie sich einer selbstbewussten Bürgerschaft gegenüber, die nicht gewillt war, ihre erworbenen Rechte aufzugeben. Es dauerte Jahrhunderte, bis es dem Fürstenhause gelang, die Stadt ihrer Macht mehr und mehr zu beugen. Die Nicolaigemeinde, welcher der größte Teil der Stadtbevölkerung angehörte, stand oft im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen.

Am 4. Juni 1330 wurde die Nicolaikirche mitsamt ihrer Filialkirche in Bone (und Pulspforde? und Dadewitz?) von den Fürsten Albrecht II. und Waldemar I. dem Patronat des Stiftes St. Bartholomäi unterstellt. Seitdem übernahm das Amt des Pfarrers an St. Nicolai immer ein Stiftsherr, dem zwei Diakone zur Seite standen. Zuständiger Archidiakon blieb der Propst in Leitzkau. Da das Stift vollständig vom Fürstenhaus dominiert wurde, eröffnete diese Maßnahme dem Fürsten die Möglichkeit, sich in die Belange der Stadt einzumischen.

Zu St.Nicolai gehörte 1440 eine "Mühle binnen der Stadt vor dem Breitestraßentore." An den Zerbster Kirchen, Kapellen und Klöstern bestanden mehrere geistliche Bruderschaften. Der dem Zerbster Fürsten verwandte Bischof Albrecht II. von Passau erteilte 1337 den Besuchern und Wohltätern beider Kirchen einen vierzigtägigen Ablass.

Noch 1481 wird zum Status der Nicolaikirche durch die Leitzkauer Bruderschaft St.Petri formuliert: "Parochialis Ecclesia St.Nicolai in Cervvist, que dicte Ecclesia Sancti Bartholomei Filia nuncupata & ab illa dependens existit." Dies bekräftigt also die Abhängigkeit von St.Bartholomäi.

3. Die Kirche einer reichen Stadt

Die Nicolaikirche war zum Kristallisationspunkt des Wirtschaftslebens der Stadt geworden. Gegenüber dem Chor befanden sich die "Gewandhallen" der Tuchhändler, ringsum die Stände der Innungen und die "Fleischscharren". Zwei, später drei große Märkte und mehrere Viehmärkte lockten in jedem Jahr die Menschen aus der weiteren Umgebung in die Stadt, in der sie ihr Geld ausgaben.

Mit dem sich nach und nach mehrenden Wohlstand der Bürger und damit auch einem wachsenden Anspruch auf politische Mitsprache bildete sich ein ständig stärker werdender Widerspruch zur fürstlichen Verwaltung heraus. Die Zerbster Kaufleute strebten, ähnlich wie in anderen Städten, die Reichsunmittelbarkeit an und versuchten auf allen möglichen Wegen, dieses Ziel zu erreichen. Als sichtbaren Beweis ihrer Wirtschaftskraft erhielten sie nicht nur die alten Befestigungsanlagen der Stadt, sondern bauten sie noch stärker aus, sogar bis zum Burgtor ihres Fürsten. Dieser sah darin einen Machtzuwachs der Stadt auf seine Kosten und ergriff Gegenmaßnahmen.

Es war daher folgerichtig, dass die romanische Kirche zu einer größeren und dem Zeitgeschmack entsprechenden umgebaut werden sollte. Dieser Kirchenbau im 15. Jahrhundert war von Anfang an ein Teil der Selbstdarstellung der Zerbster Bürger als Erbauer und Besitzer. Ursprünglich lag die Basilika frei an einem langgestreckten Platze, dem Holzmarkt. Das erste Rathaus hatte einen bis heute unbekannten Standort. Etwa 1380 baute die Stadt ein neues, gotisches Rathaus quer über den Platz, das die Südseite der Kirche außer Turm und Dach verdeckte. Die gotischen Backsteingiebel des Rathauses von 1479 und 1481 erhielten nach der Reformation die von Semper geschaffenen Terrakottafiguren der bedeutendsten Reformatoren.

Der Rat war maßgeblich an dem Kirchenbau beteiligt. Das beweisen die Bewerbungen von Meister Stephan Buxtehude 1471, der die Kirche einwölben wollte und von Meister Nennenkynth 1499, der sich für die Kirche und die Stadtmauer anbot, beim Rat der Stadt. Ob beide in Zerbst tätig wurden, ist nicht überliefert. Baumaterial wurde mit einem stadteigenen Schiff und einem Prahm auf der Elbe herangeschafft, soweit es nicht aus der Umgebung von Zerbst kam. Bei Dessau und Roßlau waren diese Transporte vom Schiffszoll befreit worden, die Entladung erfolgte bei Steutz.

1484 feierten die Zerbster die Kirchenweihe, anlässlich derer "die Pfeiffer und Lautenschläger vier alte Groschen beim Abendessen" erhielten. Im Jahre 1506 erhielt die Kirche eine Orgel, an der bis zu ihrer Ersetzung 1827 die Worte standen: "Nach Godes Gebort M.V. unde VI is disse Stat gar nahe half verbrand."

Obwohl die Pastoren Anhalts aufgefordert worden waren, Beckmann bei der Abfassung seiner Chronik zu unterstützen, scheinen alle Quellen übersehen worden zu sein, die von dem gotischen Neubau des 15. Jahrhunderts berichten. Er schätzt (schon 1710) das Alter der Kirche auf über 500 Jahre und das der "Judensau", eines Sinnbildes der antijüdischen Gesinnung des 15. Jahrhunderts, noch 100 Jahre zu hoch auf das Jahr 1349. Allein bei Beachtung des gotischen Baustils wären diese Irrtümer vermieden worden.

In seinen Maßen und in seinem Aussehen sollte das Bauwerk weithin das größte und kunstvollste werden. Nicht die Zahl der aufzunehmenden Besucher war der Maßstab für die Pläne, sondern die Vorstellung, mit diesem Bauwerk ein Symbol der Gottgläubigkeit und des Wohlstandes der Stadt zu schaffen. Das sollten nach den ersten Vorstellungen vor allem die Türme bezeugen. So ist dieser Kirchenbau nicht nur ein Stück Kirchengeschichte, sondern auch ein gutes Beispiel für die Entwicklung des bürgerlichen Einflusses auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet.

4. Die Kirche einer armen Stadt

Als endlich der Kirchenraum eingeweiht werden konnte und nun in seiner ganzen Größe und Schönheit der gläubigen Gemeinde den feierlichen Rahmen für die Gottesdienste bot, waren die alten Vorstellungen von Gottgläubigkeit in Bedrängnis geraten. Der Gegensatz zwischen der konservativen Kirchenlehre und dem täglichen Leben klaffte immer weiter auseinander. Hinzu kam die Schwierigkeit mit der aufkommenden Geldwirtschaft und dem hohen Geldbedarf der kirchlichen und fürstlichen Verwaltungen.

Großes Unglück suchte die Stadt 1448 heim, hier der Bericht zu einer von mehreren Pestepidemien:
"Peste Inguinaria multas eodem Anno devastante villas & Civitates. Dicebatur enim, quod a festo Laurentii usque ad festum Nicolai, duo millia hominum mortua sint in Cserbist; Fecitque hec tribulatio dispersionem multam undique, quisque locum fugitivum exquirens". Das bedeutet in Deutsch: "Peste Inguinaria (des Unterleibs) verheerte im selben Jahre viele Dörfer und Städte. Es wurde gesagt, dass vom Tag des hl. Laurentius bis zum Tag des hl. Nicolaus 2000 Menschen in Zerbst gestorben sind. Diese Not bewirkte eine große Fluchtbewegung (Zerstreuung), jeder suchte einen rettenden Ort auf."
In wenigen Monaten waren 2000 Einwohner an der Pest gestorben, ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Schon 1497 folgte die nächste Pestepidemie, die erst 1502 erlosch. Und wenige Jahre später, im Jahre 1506, legte eine große Brandkatastrophe ein Drittel der Stadt in Asche. Alles nördlich der Linie Franziskanerkloster, wo das Feuer ausbrach, Nicolaikirche und Breitestraßentor brannte ab.
Das waren schwere Schläge gegen die Wirtschaftskraft der Stadt, und man hatte andere Sorgen, als sich um eine prächtige Vollendung der großen Kirche zu kümmern.

Nach dem großen Brand führte man in Zerbst eine "Feuerordnung" ein. Auf dem Turm wurden eine Laterne und eine Fahne stationiert, damit die Richtung, in der ein Feuer gesichtet worden war, angezeigt werden konnte.
Auch ein anderes Unglück hatte das Konzept des Kirchenbaues gestört. Die Magdeburger Schöppenchronik berichtet (Übersetzung aus dem Lateinischen): "Zu Ostern 1475, am Vortage des Festes, hatte der Rat Pulver für Geschütze in den Türmen gelagert und hatte die Tore nicht verschlossen und Schüler, die beim Grab des Herrn waren, traten mit einer Kerze ein und nahmen Pulver und verstreuten es, und das Feuer kam zum Pulver, und nachdem das Pulver entzündet worden, riss der Turm auseinander, und die Glocken fielen herunter, und dadurch trug die Bürgerschaft einen großen Schaden davon wegen der eigenen Nachlässigkeit."
Hier ist von Pulvertürmen (in turibus) die Rede, während nach Zerbster Quellen nur der Südturm als Pulvermagazin genutzt wurde.
Es wäre aber merkwürdig, dass 1478 gerade der Nordturm völlig neu erbaut wurde, wenn die Explosion im Südturm stattgefunden haben sollte. Er diente als Wachtturm und war von außen her direkt zugänglich. Der Wächter konnte über einen brückenartigen Gang in das Obergeschoss des Rathauses gelangen, das allerdings erst für 1385 an dieser Stelle vermutet wird. Eine Explosion in beiden Türmen oder im Mittelteil wäre eine Erklärung. Der Südturm wurde nur repariert. Aber die Risse traten immer wieder auf, mussten häufig ausgebessert werden und sind noch heute vom Innern des Kirchenschiffes deutlich zu sehen. Nordturm und Mittelteil wurden mussten neu errichtet werden.

In einer Chronik heißt es zu Jahr 1726: Die große Betglocke auf St. Nicolai soll nicht mehr läuten, weil der Zustand des Turmes so schlecht ist, "wegen von Alterthum herrührenden Schäden". Die mangelhafte Stabilität des Südturmes wird u.a. als Grund für den Verzicht auf hohe gotische Turmhelme angesehen oder aber Geldmangel. Jedoch sollte die Vorbildwirkung der Magdeburger Domtürme nicht außer acht gelassen werden; aber vielleicht baute man das alte Westwerk nach der Explosion in ähnlicher Form einfach wieder auf.

5. Zerbst - die andere Stadt der Reformation

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts machte sich allgemeine Unzufriedenheit mit der Kirche breit. Besonders das Mönchsdasein verlor bei den Leuten an Achtung. Sicher gab es auch in Zerbst begründete Beschwerden gegenüber den grauen Mönchen, aber sie konnten es einfach niemand mehr recht machen. Der Rat war gegen die Klöster und wiegelte die Bürgerschaft auf. 1493 forderten die Innungen ein Verbot von Vermächtnissen an Grundeigentum zugunsten der Kirche. 1494 wollten die Bauern aus Zernitz und Badewitz ihren Kirchenzins an die Nicolaikirche nicht mehr entrichten.

In dieser ohnehin schon spannungsreichen Zeit entzündete sich der Volkszorn an dem überhandnehmenden, von Tetzel organisierten Ablasshandel:
In der Zerbster Bartholomäuskirche war das Ablasskreuz aufgestellt, und 18 Beichtväter nahmen die Beichten der in Scharen herbeiströmenden reuigen Sünder entgegen. Die Ablasshändler, es waren zwei Domherren aus Magdeburg und Erfurt, saßen am Westportal der Bartholomäikirche und boten Ablass zu hohen Preisen, also Vergebung der Sünden gegen Geld <MA XI,3>. Das reichte von der Lüge bis zum Kapitalverbrechen. Hier die Taxen für einige schlimme Delikte:

  • Kirchenraub auf 9 Dukaten
  • Totschlag auf 7 Dukaten
  • Hexerei auf 6 Dukaten
  • Eltern- und Geschwistermord auf 4 Dukaten.

Der Streit um den Ablasshandel war in Zerbst besonders heftig. Ohne Gegenwert wurde das Geld aus den Städten gezogen. Der Kurfürst von Sachsen-Wittenberg hatte den Ablasshandel in seinem Land verboten, und nun fuhren die Wittenberger Sünder in die benachbarten Städte Zerbst und Jüterbog, um sich Ablass zu erkaufen. Beckmann zitiert ein Präbendenbuch (?) und Aufzeichnungen von Fürst Magnus: "... bevorab da selbige ein nicht ungleiches Vorbild der Tetzelischen Indulgentien (Ablassbriefe) gewesen / und bei 425 fl (Gulden) / welches zu den Zeiten ein großes Geld gewesen / aus der Stat Zerbst getragen." Im Jahre 1502 seien es 200 Gulden gewesen.

Luther nahm in seinen Thesen eindeutig Stellung gegen diesen Handel. Es folgten seine bekannten Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche und dem kaiserlichen Staat, in deren Verlauf sich die Gegensätze noch verschärften. Erst als in Wittenberg und Zerbst der Aufruhr tobte und Bilderstürmer im Franziskanerkloster und in der Ankuhnschen Kirche hausten, kam Luther aus der Sicherheit der Wartburg nach Wittenberg und einige Wochen später, am 18. Mai 1522, nach Zerbst. Er sollte auf Wunsch des Zerbster Rates die Wogen der Erregung glätten. "Sermon von Sünde, Gerechtigkeit und Urteil" ist der Titel einer der 14 erhaltenen Reden Luthers aus dieser Zeit. Ihre Datierung deutet darauf hin, dass er sie in Zerbst gehalten hat. Sie wendet sich gegen den Papst und die Klöster und wird zur Besänftigung der Gemüter wenig beigetragen haben. Er habe "reichlich viel Volks vergiftet", stellte der Dekan von St.Bartholomäi fest.

Die Ereignisse der Reformation in Zerbst gingen von der Gemeinde der Stadtkirche St. Nicolai aus. Am 5. März 1521 (Fastnacht) kam es zu einem ersten Vorkommnis, als der Kaplan Wilbolt in seiner Wohnung beschimpft und bedroht wurde. Die lasche Haltung des Rates gegenüber den Tätern ist bezeichnend. Er verbietet im gleichen Jahr den Mönchen der Termineien das Sammeln von Almosen.

Auch Pfarrer Matthäus Meseberg, zugleich auch Stiftsherr von St.Bartholomäi, stellte sich auf die Seite seiner aufrührerischen Gemeindemitglieder. Er bekannte sich zur "Neuen Lehre" und geriet in schweren Konflikt mit seinem Stift, nachdem er 1521 die Abführung der Opfergelder verweigert hatte.
Bald bereiteten die von dem Wittenberger Karlstadt angestifteten Bilderstürmer dem "Götzendienst" zuerst im April 1525 in der Nicolaikirche, später auch in der Stiftskirche St.Barthlomäi gewaltsam ein Ende. Was sich in der Nicolaikirche zutrug, entnehmen wir einem Brief des Bischofs von Brandenburg an die anhaltischen Fürsten.

"Uns ist glaublich angelanget, dass die von Zerwist oder etzliche vergessene Leute aus ihrer Mitte allerlei Bilder, Kreuze, Kerzen, Epitaphien und dergleichen, was sich in der St.Niclas-Kirchen daselbst auf den Altären und anderswo war gestanden, aus böser Eingebung und Übermuth auf einen Wagen geladen und damit in das Augustiner-Kloster gefahren, dieselben mit Schimpf und Spott unter einer Braupfanne im Beisein vieler Einwohner und fremder Leute verbrannt, Bier mit den Bildern, sonderlich die Pfannen gekocht und ihren Muthwillen getrieben haben."

Es gibt einige Hinweise auf die ehemalige Ausstattung. Die Kirche besaß einen vergoldeten, gotischen Flügelaltar mit geschnitzten Figuren.
"Weil aber unterschiedene Stücken hievon gantz inconvenable gewesen / mithin die Lehre des Papstthums von den Fegefeuer / Limbo Patrum und dergleichen darin enthalten / so hat man sie bald zu Anfange der Reformation unter Fürst Wolfgangen weggenommen."
Die Verwüstungen waren ganz gegen den Willen Luthers: "Mit dem Worte allein ist zu kämpfen, ... wozu die Unsern Gewalt und Ungestüm gebraucht haben."

Der Brandenburger Bischof versuchte schließlich, die anhaltischen und brandenburgischen Fürsten zu gewaltsamem Eingreifen zu bewegen. Das Dessauer Bündnis anhaltischer, sächsischer, brandenburgischer und braunschweigischer Fürsten von 1525 verlangte von Zerbst die Aufhebung der unchristlichen Neuerungen, Entlassung des ketzerischen Pfaffen, Zahlung der kirchlichen Abgaben und Unterwerfung unter den Bischof. Aber die Zerbster gaben nicht nach. Sie wurden dabei auf geschickte Weise vom Fürsten Wolfgang von Anhalt unterstützt, der aber einen Bruch mit seiner erzkatholischen Familie vermeiden wollte.

Da die Fürsten über das Vorgehen gegen Zerbst uneins blieben, war die Sache der Römischen Kirche in Zerbst verloren. Die Reformation war nicht mehr zu stoppen.
Am 23. Juli 1544 wurde Theodor Fabricius von Luther selbst zum Pfarrer an St. Nicolai und zum Superintendenten in Zerbst ordiniert. Fabricius hat eine Zerbster Kirchenordnung geschaffen, die auch in Roßlau und Lindau galt, und die Reformation in Anhalt-Zerbst vollendet. (Zu seiner Freundschaft mit Melanchthon an anderer Stelle.) Er starb 1570.

Rückschauend stellte Amling, der einflussreiche Kirchenmann Anhalts, ein halbes Jahrhundert nach der Reformation fest: "Zerbst ist, nachdem Gott durch D. Luther aus sonderlicher Barmherzigkeit das heilige Licht des Evangelii ... (verkündet hat), unter allen sächsischen Städten die andere (zweite) gewesen, die sich anfänglich zum Evangelio bekannt."

6. Die "Neue Lehre" etabliert sich

Im Jahre 1526 wurde die Nicolaischule, eine städtische Lateinschule, in einem Neubau neben der Nicolaikirche eröffnet und hatte sofort viele Schüler. Nachdem ihr Haus im Dezember 1530 abgebrannt war, wurde sie 1532 in das inzwischen geschlossene Barfüßerkloster verlegt und hatte schon einen Schulmeister und vier weitere Lehrer. Der erste bekannte Lehrplan 1545 stammte von Fabricius und war für vier Klassenstufen gedacht. Im gleichen Jahre bezeichnete sich Fabricius auch als Gründer einer Mädchenschule. Diese wurde durch Ratsakten aber schon für 1530 nachgewiesen.

Besondere Erwähnung verdient die Musikpflege in Zerbst. Der Musikunterricht spielte an der Nicolaischule eine große Rolle. 4 Gulden 3 Groschen für eine Komposition bezahlte der Rat 1575 einem Komponisten, dem "Schulgesellen zu St.Nicolai, der die musicam poeticam gelehret und sie in vier Wochen instituieret hat."

1579 gab es ein convivium musicum, dem der Kantor und wiederum Lehrer und Schüler der Schule angehörten und das vom Rat jährlich Geld und Naturalspenden erhielt. Der Kantor an der Nicolaikirche, Mulich, schenkte 1583 dem Rat sechs Partituren mit Hymne, Introitus und Kyrie, "was zum Notwendigsten in eurer Kirchen mangelt." Mehrmals noch wurde Geld für Kirchenmusiken ausgegeben. Orgelspezialisten aus Berlin 1551 und Wittenberg 1580 überholten das Instrument.

1575 kam Gallus Dreßler als Diakon an die Nicolaikirche, zu seiner Zeit ein bekannter Komponist, dessen Werke auch heute noch aufgeführt werden. Er wirkte hier die letzten fünf Jahre seines Lebens. Dreßler soll auch privat eine Musikschule betrieben haben.
Zu besonderen Anlässen gastierten die Magdeburger Stadtpfeifer und die Halleschen Trompeter in Zerbst, aber auch Zerbster Musiker traten in anderen Städten auf. Magister Clemens Streso von der Nicolaischule und der Diakon Gallus Dreßler wurden "zur Aufführung neuer Gesänge" an den Dessauer Fürstenhof gebeten.

Michael Prätorius, der bekannte Kirchenmusiker des 16. Jahrhunderts, hat zeitweilig bei seiner in Zerbst verheirateten Schwester gelebt und hier seine erste musikalische Ausbildung erhalten. Er dürfte die Nicolaischule besucht haben. In dankbarer Erinnerung vermachte er später der Stadt Zerbst mehrere Musikstücke. Im 17. Jahrhundert setzte das Collegium musicum die Tradition fort, der Rat kaufte 1622 nicht weniger als 200 Musiken für die Kirche. seine Lehre zu gewinnen, war für Luther deshalb so wichtig, weil diese Wittenberg benachbarte Stadt mit drei Kirchen, drei Klöstern, acht Kapellen und drei Klostertermineien (der Karmeliter, der Pauliner und der Prämonstratenser) die Hauptstätte des Katholizismus in Anhalt war. Zwischen Magdeburg und Leipzig war Zerbst das wichtigste Handelszentrum und hatte fast doppelt soviel Einwohner wie Wittenberg.

Die mit der Einführung der "Neuen Lehre" verbundenen Ereignisse hatten schwere Schäden an dem Bestand der Kunstgegenstände angerichtet. Weiterhin führten die Veränderungen zunächst zu einer völligen Einstellung der Bauarbeiten an der Kirche. Erst 1535 wurden die Turmspitzen in sehr verkleinerter Form aufgesetzt, wie sie in der Spätgotik nicht üblich waren. Vielfältig gestalteten sich die Beziehungen zwischen Luther und dem Rat der Stadt. Ihre geschichtliche Bedeutung wuchs weit über die örtlichen Belange hinaus. Die Größe der Stadt und ihr Ansehen waren für die "Neue Lehre" der Anlass, in der Nicolaikirche die erste Ordination (Amtseinführung) eines Geistlichen vorzunehmen.

Im Jahre 1566 trifft wiederum ein harter Schicksalsschlag die Stadt <Be III,II,I,17>. 5000, nach anderen Quellen 6000 Menschen fallen einer vernichtenden Pestepidemie zum Opfer, die den Zerbstern über viele Generationen hinweg als das "Große Sterben" im Gedächtnis geblieben ist. Man glaubt bei dieser Zahl der Opfer an einen Irrtum, betrug doch die Einwohnerzahl gewiss weit weniger als 10.000. Doch die Zahlen der Toten von je einer Woche sind mit 213, 297, 307, ... überliefert, und die Seuche dauerte von Ostern bis zu Allerheiligen (1. November). Drei Bürgermeister und viele bedeutende Persönlichkeiten der Stadt zählten zu den Opfern. Sie wurden größtenteils in Massengräbern auf dem Nicolaifriedhof neben der Kirche begraben. Dort fand man 1992 bei Schachtarbeiten ihre Gebeine.

Zu den vielen Veränderungen jener Zeit zählt auch die Anlegung des Heidetorfriedhofes für die Nicolaigemeinde nach einem Plan von Niuron. Im 16. Jahrhundert befanden sich sieben Friedhöfe in der Stadt in der Nähe der Kirchen, Klöster und Kapellen. Schon 1536 gab Luther auf Anfrage des Rates die Anregung, einen Friedhof außerhalb der Stadtmauer anzulegen, denn "überall, wo Christenmenschen begraben werden, ist Gottes Acker." Als die Zustände auf dem alten Friedhof um die Kirche herum unhaltbar geworden waren und die Pestopfer nach Tausenden zählten, befolgte man 1582 diesen Rat. Der Friedhof an der Kirche bestand aber noch bis etwa 1800, und die Erbbegräbnisse wurden auch so lange belegt. Bei seiner Rede zur Einweihung des Heidetorfriedhofes 1582 benutzte Amling selbstverständlich die Gelegenheit, mit seinen Widersachern ins Gericht zu gehen. Sodann berichtete er von fünf Pestheimsuchungen in den vergangenen 16 Jahren und beschrieb die Zustände auf den innerstädtischen Friedhöfen, wo man halbverweste Körper wieder ausgraben musste, um Platz zu schaffen. Viel Mühe gab er sich mit der Begründung dafür, dass man Christen auch außerhalb der Stadt, weitab von ihrer Kirche, begraben dürfe. Seine Beschreibung der Totenrituale bei fremden Heidenvölkern ist schauerlich zu lesen, so dass seine zuhörende Kirchengemeinde mit der neuen Lösung gewiss zufrieden war.

Schon 1607 wurden abermals 1800 Menschen dahingerafft, viele weitere in den Pestjahren 1626, 1636 und 1637. Ernst von Mansfelds Truppen hatten 1626 die Stadt erstürmt und die Krankheit eingeschleppt. Die Zerbster kennen die Gedenktafel an der Stadtmauer hinter dem Francisceum.

Die Stadt war ständig angefüllt mit Flüchtlingen und den Soldaten vieler Heere. Allein an stadtfremden Personen sollen 1636 und 1637 über 1500 gestorben sein. Wenn auch in einigen Fällen Zählungen zugrunde liegen dürften, so scheinen die in den Quellen genannten Zahlen der Pesttoten doch unwahrscheinlich hoch zu sein.

7. Der Philippismus in Zerbst

Sehr enge Beziehungen zu Zerbst hatte Philipp Melanchthon, der sich häufig in der Stadt aufhielt. Er war eng mit Fabricius, dem Superintendenten und Pfarrer von St. Nicolai, befreundet und wohnte bei seinen manchmal längeren Aufenthalten im Pfarrhaus neben der Nicolaikirche.

Melanchthon war der Verfasser der Augsburger Konfession, die als Verteidigungsrede der Protestanten am 25. Juni 1530 auf dem Reichtag von Augsburg verlesen wurde. Luther begab sich mit auf die Reise, musste aber auf der Feste Coburg zurückbleiben, da 1521 mit dem Wormser Edikt von Karl V. die Reichsacht über ihn verhängt worden war.

Eine in der Hauptsache ebenfalls durch Melanchthon wesentlich veränderte Fassung (Confessio variata) von 1540 zog Jahre später eine tiefgreifende Spaltung des evangelischen Protestantismus in Deutschland nach sich. Die Anhänger Melanchthons, Philippisten genannt, wurden von ihren Gegnern, die die Confessio variata nicht mehr anerkennen wollten, heftig angegriffen. Die 2. Augsburger Konfession stand den Auffassungen der Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin sehr nahe, obwohl die Philippisten das nicht gern hörten.

Eine lange Reihe von Konventen und Colloquien in Augsburg, Coswig, Köthen, 1570 in Zerbst und danach in Kloster Berge (Magdeburg), Nienburg, Torgau und Herzberg brachten keine Einigung, sondern eine Flut von scharfen Polemiken, die in Wittenberg, Zerbst, Leipzig oder andernorts gedruckt wurden. Wortführer der Reformierten war Amling, der keine Kompromisse gelten ließ und dessen Auftreten von seinen Widersachern als herrisch und anmaßend beschrieben wird. In dem Württemberger Theologen Jacobus Andrea hatte Amling einen Gegenspieler gleichen Formats, bevormundend und autoritär, der immer wieder Verhandlungen zu sogenannten Concordien zwischen den Fürsten und Theologen beider Parteien zustande brachte <Concordia = Eintracht>. Diese Zusammenkünfte wurden nach erregten Debatten regelmäßig von den Reformierten gesprengt. Dabei gerieten Amling und Jacobus besonders heftig aneinander, und ihre gegenseitige Aversion hat sicher einer Einigung auch entgegengestanden.
Aus der näheren Umgebung kamen die schärfsten und persönlich beleidigenden Polemiken vom Pfarrer Crato zu Calbe, der Amling als vom Teufel besessen bezeichnete. Von vielen anderen ähnlichen wird noch der Satz zitiert: "Spitzbub Amling und seine Rottgesellen sind selbst nicht recht getauft." Amling wurde nicht müde, er verfasste eine große Zahl von Erwiderungen und theologischen Erörterungen, die er ab 1582 meist von Bonaventura Schmidt, dem Drucker des Gymnasium illustre in Zerbst, drucken ließ. Verteidigt wurde die reformierte Lehre u.a. auch durch den Zerbster Pfarrer Ulrich, die Rektoren des Gymnasium illustre Bersmann und Wendelin und später durch den Köthener Pfarrer Sachse.

Trotz des an sich löblichen Vorsatzes der Concordien wurde dem Jacobus Andrea zu Recht unterstellt, er arbeite gegen die reformierten Kirchen. Es gibt einen Bericht vom Zerbster Konvent, der von Kunrad Horn in Wolffenbüttel gedruckt wurde. Demnach verhandelten 21 Theologen in der Bartholomäikirche. Sie beschworen zwar die Einigkeit, zerstritten sich aber über Spitzfindigkeiten.

Die anhaltischen Theologen, in der Hauptsache Amling, schrieben für die Reformierten eine eigene Erklärung, in welcher 11 Artikel enthalten sind, und nach den Einwendungen ihrer Gegner erschien am 21. Oktober 1579 "Der anhaltischen Theologen Bekenntnis über die Präfation der Concordienformel." Es enthält 42 anhaltische Argumente und wurde 1584 in deutscher Sprache bei Bonaventura Schmidt in Zerbst gedruckt. Schon der Beginn lässt die Klarheit nicht vermissen: "Dazu sagen wir / Nein / aus folgenden / unbeweglichen / warhafftigen Gründen."

Das Bekenntnis befindet sich zusammen mit anderen Schriften, u.a. der Einweihungsrede Amlings für den Heidetorfriedhof, in einem Sammelband, der zum Bestand der Francisceumsbibliothek gehört. Trotzdem wurden die "Concordien", um deren Formulierung von 1569 bis 1580 gekämpft worden war, von vielen Fürsten und reichsfreien Städten als verbindlich erklärt. Noch im gleichen Jahre erschien das in Dresden gedruckte Concordienbuch, das neben der Augsburger Konfession auch die Schmalkaldischen Artikel, Luthers Katechismus und andere theologische Schriften enthält. Weiterhin sind die Namen derer aufgeführt, die diese Concordien durch Unterschrift anerkannten. Es sind mehrere Tausend, aber die Zerbster Fürsten und Theologen fehlen.

Allihn bezeichnet die Concordien als das Pracht- und Kabinettstück des lutherischen Orthodoxismus.
In den lutherisch beherrschten Städten wie Wittenberg und Leipzig nötigte man Theologen, Schul- und Kirchendiener (Professoren, Lehrer und Pfarrer), dieses Buch zu unterschreiben, d.h. die Concordien anzuerkennen. Viele Theologen und Gelehrten verweigerten dies, wurden ihres Amtes enthoben und fanden nicht selten im reformierten Zerbst eine neue Wirkungsstätte.

Ein Exemplar dieses berühmten Concordienbuches, "Dreßden MDLXXX", befindet sich in der Bibliothek des Francisceums. Der Innendeckel, das Titelblatt und mehrere Innenseiten sind mit in Latein verfassten Glossen versehen. Diese sind wegen der unleserlichen Schrift nur teilweise zu übersetzen und stammen wahrscheinlich fast alle von Caspar Ulrich, dem Nachfolger Amlings, der an einer Stelle seinen Namen und das Datum "Juli 1606" hinzugesetzt hat. Die Eintragungen bringen seine Ablehnung gegenüber den Aussagen dieses Buches, der "Concordienformel", krass zum Ausdruck, wie es zu dieser Zeit auch die offizielle Haltung des Fürsten Joachim Ernst, der Zerbster Geistlichkeit und des Rates der Stadt war.

Jacobus versuchte wiederholt, Amling bei seinem Fürsten zu diffamieren, was nicht ganz ohne Wirkung blieb. Trotzdem wurde in Anhalt die Concordienformel nicht anerkannt, verharrte man im reformierten Glauben, während in Wittenberg die führenden Persönlichkeiten der Philippisten sogar ins Gefängnis geworfen wurden.

Amling hatte seit 1578 alle jungen Geistlichen Anhalts selbst in Zerbst ordiniert (in das Kirchenamt eingeführt), was eine Brüskierung Wittenbergs darstellte. Er gewann für lange Jahre bestimmenden Einfluss auf den Fürsten Joachim Ernst und konnte ihn dazu bewegen, in Zerbst eine eigene anhaltische Landesuniversität zu gründen. Die Landeskinder sollten nun nicht mehr ins lutherische Wittenberg gehen, um Theologie, Jurisprudenz, Philosophie, Mathematik, Medizin, lateinische, griechische oder hebräische Sprache zu studieren.

Durch die Gründung des reformierten "Gymnasium illustre" erlangte die Nicolaikirche als religiöses Zentrum dieser Konfession nochmals besondere Bedeutung. Das noch in der Kirche befindliche schöne Epitaph des 1680 gestorbenen Rektors Lüder Kannengießer symbolisiert die für 200 Jahre bestehende Verknüpfung der Schicksale von Kirche und Universität.

Als die reformierte Pfalz im 30jährigen Krieg von den Kaiserlichen besetzt wurde, kam Christian Beckmann als Flüchtling nach Bernburg und 1627 nach Zerbst. Er wurde Professor für Theologie am Gymnasium illustre und gleichzeitig Pfarrer und Superintendent an St. Nicolai. Seit Amling hatte es diese Ämterverbindung immer wieder gegeben.

8. Rückkehr zum Luthertum

Als der streng lutherisch erzogene Fürst Johann im Jahre 1642 die Regierung antrat, war den Zerbstern seine Absicht bekannt, den lutherischen Glauben in Zerbst wieder einzuführen. Daher verweigerte ihm die Stadt die Huldigung und wollte Garantien für ihre reformierte Konfession. Sie berief sich auf das Testament des Fürsten Rudolf, des Vaters von Johann, wonach die Religion der Kirchen und Schulen "so verbleiben sollte".

Dies wollte der Fürst nur für die Stadtkirche St. Nicolai anerkennen, die Fürstenkirche St.Bartholomäi sei seine Sache. Er setzte sich auch über die Einsprüche der anderen anhaltischen Fürsten hinweg, führte Beschwerde beim Kaiser und zwang den Rat zur Huldigung. Die Stadt lag in der Agonie des 30jährigen Krieges und schwerer Pestzeiten. So konnte sie sich dem immer weitergehenden Abbau ihrer Souveränität durch das Fürstenhaus kaum entgegenstemmen.

Die Auseinandersetzungen um den rechten Glauben zerstörten auch noch den inneren Frieden der Stadt, in welcher der ganzen lebenden Generation äußerer Friede schon nicht mehr erinnerlich war. Der Hof und ein Teil der Bürgerschaft schlossen sich der lutherischen Konfession an.

Seit 1666 gab es einen reformierten und einen lutherischen Rat, die sich oft zerstritten. Letzterer forderte den Zugang zur Nicolaikirche.
Nach dem Tode Fürst Johanns, der an den Blattern erkrankt war, wollte die Regentin Sophie Auguste das letzte reformierte Bollwerk St. Nicolai beseitigen. Sie ließ einen zusätzlichen lutherischen Geistlichen anstellen und die nächste freiwerdende Stelle für den lutherischen Prediger Bernstein von St.Bartholomäi reservieren.

Am 21. Mai 1672 trat eine Kommission der anhaltischen und der benachbarten Fürstentümer zusammen, um die vielerorts entstandenen Streitigkeiten zu schlichten. Für Zerbst standen mehrere Varianten zur Debatte:

  • Simultane Nutzung der Nicolaikirche
  • Getrennte Nutzung von Teilen der Kirche (Trennwand)
  • Umbau der Augustinerkirche für die Lutheraner
  • Anbau einer lutherischen Kirche an der Westseite des Turmes

Die Standpunkte der streitenden Parteien schienen unvereinbar, und man vertagte die Versammlung auf unbestimmte Zeit.

Aber im Jahre 1679 erreichte die Stadt, nachdem der Streit bis zum Kaiser getragen worden war, einen "Receß" (Vergleich), der im ehemaligen Zerbster Franziskanerkloster besiegelt und 1680 von anhaltischen, sächsischen, brandenburgischen, braunschweigischen, lüneburgischen und hessischen Fürsten garantiert wurde.

Der "Receß" enthielt für die Nicolaigemeinde die folgenden wichtigen Festlegungen <Be III, II, I, 16 und Re>:
"Erstlich versprechen ond verobligieren sich Fürst Carl Wilhelm ..., dass denen Reformirten im Rahtstuhl und der gantzen reformirten Gemeine das alleinige exercitium ihrer Religion in der Kirchen St. Nicolai zu Zerbst verbleiben / und von nun an und zu ewigen Zeiten kein anderes als das obgenannte Religions-Exercitium darinnen getrieben und gestattet werden / ins besondere auch dem bishero von den Evangelisch Lutherischen Rahtsverwandten und Bürgerschaft aus gewissen Ursachen prätendierten Simultaneo Religionis Exercitio von seiner Hochfürstl. Durchl. zu und dero Herren Gebrüdere Hochfürstl. Durchl. Durchl. Durchl. und dero allerseits Nachkommen / wie auch dem itztgenannten Lutherischen Raht und Gemeinde perpetuierlich abgesagt und Krafft dieses renunciiret sein solle."
Im fünften Artikel ist von der für die Lutheraner zu erbauenden neuen Kirche und im sechsten von der Finanzierung ihres Baues die Rede. In den fünf Jahren bis 1680 soll demnach die reformierte Gemeinde 12000 Reichstaler aufbringen. Die Nicolaikirche hat von ihren vier Pfarrhäusern eines abzutreten und die Benutzung ihres Geläutes gegen gewöhnliche Gebühr zu gestatten.
Siebentens braucht die reformierte Gemeinde sonst nichts zum Neubau beizutragen, die lutherische aber auch nichts zur Unterhaltung und Reparatur der Nicolaikirche.
Achtens nimmt Fürst Carl Wilhelm von seinem ursprünglichen Vorhaben Abstand, die neue Kirche westlich der Türme an die Nicolaikirche anbauen zu lassen.

"Damit auch Neundtens die obmeldete Zwölftausend Reichsthaler desto richtiger einkommen" wird festgelegt, "das die Tranck-Steuer der Stat Zerbst dafür hafften" solle.
Die Prozesskosten trage jede Partei zu ihrem Teile.

"Endlich und zum Dreyzehenden: Nachdem nunmehr durch diesen Receß alle bisherige Zwistigkeiten mittelst Göttlicher Gnadenverleyhung geendiget", verspricht man, sich hinfort zu vertragen. Auch weiterhin behielt jede Konfession ihren eigenen Rat; dem Fürstenhaus stand keine geeinte Stadt mehr gegenüber.

9. Ein Kulturzentrum der neuen Zeit

Im 19. Jahrhundert nahmen die Einigungsbestrebungen der evangelischen Kirchen einen neuen Aufschwung. Sie führten um 1820 in den deutschen Staaten, 1827 in Anhalt-Dessau, wozu Zerbst gehörte, zu einer Vereinigung, der "Union" (s. u. Unionsdenkmal von Woltreck).
Zugleich nahm die Bedeutung der Nicolaikirche für das gesellschaftliche Leben der Stadt wieder zu.

Von der Reformationszeit an gehörte die Kirchenmusik zum festen Bestandteil der Gottesdienste, besonders an den Festtagen. Zum anderen fand die Kantorei der Kirche, oft in Verbindung mit den örtlichen Gesangsvereinen, immer eine große Hörerschaft, wenn sie ihre Konzerte gab. Der Kirchenraum war wieder in die unmittelbare Nähe der Bürger gerückt, so wie in frühen Zeiten, als hier die Bürgerversammlungen stattfanden.
1836 erhält ein Stadtchor, der in allen drei Zerbster Kirchen singen soll, sein Statut. Den Kern des Chores stellt wiederum die Schule, die im alten Barfüßerkloster ihren Sitz hat - das Francisceum. Erwähnung verdient auch der Oratorienverein um 1900 mit seinem Dirigenten Preitz.

Der russische Zar Nikolaus gab das Geld zu einer neuen Orgel, für deren Einweihung 1840 der Dessauer Hofkapellmeister Schneider die Musik komponierte. Schneider war ein begeisterter Verehrer von Zerbst und gastierte sehr häufig mit seiner Dessauer Liedertafel in der Nicolaikirche. Der mit ihm befreundete Pfarrer an St. Nicolai, Schubert, komponierte für die Liedertafel und gehörte ihr auch als Sänger an.

Aus dem 19. Jahrhundert wissen wir von glanzvollen Musikfesten und Orgelkonzerten in der Nicolaikirche, so den Elbmusikfesten und den Anhaltischen Musikfesten des Anhaltischen Musikverbandes.
Das waren Treffen vieler Chöre und Orchester, auf denen die großen Werke weltbekannter Komponisten aufgeführt wurden. Leider vernachlässigte man dabei das reiche Zerbster Musikschaffen der Vergangenheit in zunehmendem Maße.
Mit den Reichskirchengesangstagen und den Anhaltischen Landeskirchenmusiktreffen wurden die kirchenmusikalischen Traditionen bis zum Zweiten Weltkrieg weitergeführt.

Nach der Zerstörung im Jahre 1945 schien das Schicksal der Nicolaikirche besiegelt. Sprengungsversuche um 1950 wurden wegen der Gefährdung der umliegenden Häuser eingestellt. Es bedurfte des Engagements mutiger Leute, das auch in seiner zerstörten Form noch tief beeindruckende Baudenkmal später vor der geplanten Abtragung zu bewahren.

Die Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 eröffnete neue Möglichkeiten. Man begann über die Sicherung der Ruine nachzudenken.

Am 24. Juni 1991 gründete sich der Förderkreis St. Nicolai, der sich seither als eingetragener gemeinnütziger Verein dieser Aufgabe angenommen hat. Er hat die Hoffnung, dieses Denkmal der großen Zerbster Vergangenheit wieder zum Ort der Zusammenkunft der Bürger seiner Stadt werden zu lassen.

Quellen und Literatur

Leider ist über das Schicksal des von den Chronisten häufig zitierten Archivs der Nicolaigemeinde nichts bekannt.
Wahrscheinlich ist es mit einem Teil der Kirchenbücher 1945 verbrannt. Die Hoffnung, dass sich an einem unbekannten Ort ausgelagertes Archivgut befindet, ist gering. Hauptfundort der nutzbaren Quellen ist daher die Bibliothek des Francisceums, das von 1582 bis 1797 eine eigene Buchdruckerwerkstatt besaß.

Neben ihrem reichen historischen Buchbestand enthält diese Bibliothek eine große Sammlung von anhaltischer Sekundärliteratur, die die Inhalte der verlorengegangenen originalen Quellen überliefert hat. Außerdem sei auf das Quellenverzeichnis im Nicolaibuch Nr. 1 von 1994 hingewiesen.